Als erste Frau und erste Sozialdemokratin wird die damals 53jährige Annemarie Renger am 13. Dezember 1972 zur Präsidentin des Deutschen Bundestages gewählt. Weltweit steht damit erstmals eine Frau an der Spitze eines frei gewählten Parlaments. Erst in den 1980er Jahren folgen Parlamentspräsidentinnen in Kanada (1980) und Australien (1986). „Die Wahl einer Frau, meine Damen und Herren, für dieses Amt hat verständlicherweise einiges Aufsehen erregt“, so Renger in ihrer Antrittsrede im Bonner Plenarsaal. Sie hoffe jedoch, dazu beitragen zu können, „Vorurteile abzubauen, die einer unbefangenen Beurteilung der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft noch immer entgegenstehen“. Alltag, Stil und Kommunikation in der Politik sind zu Beginn der siebziger Jahre, als der Anteil der Frauen im Bundestag bei knapp sechs Prozent liegt, männlich geprägt. Dessen ist sich die neue Bundestagspräsidentin bewusst: „Von meiner Amtsführung hing es ab, ob sich das Parlament durch mich vertreten fühlte, ob die Bevölkerung meine Repräsentanz akzeptierte und ob die Besetzung dieses Amtes mit einer Frau nicht ein ‚Experiment’ blieb“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Zwölf Jahre nach Ende ihrer Amtszeit folgt mit Rita Süssmuth die zweite Frau und erste Christdemokratin in das zweithöchste Staatsamt. 1990 wird Sabine Bergmann-Pohl Präsidentin der einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR, und seit 2021 steht mit Bärbel Bas die dritte Frau an der Spitze des Deutschen Bundestages.
Annemarie Renger wird am 7. Oktober 1919 in Leipzig als jüngstes von sieben Kindern geboren und wächst in Berlin auf. Ihr Vater Fritz Wildung ist gelernter Tischler, Mitbegründer des Berliner Arbeiterbildungsvereins und Vorsitzender des Arbeiter-Turnvereins. Als Chefredakteur der „Arbeiter-Turnzeitung“ sind er und seine Frau Martha tief im sozialdemokratischen Milieu verwurzelt. „Wir Wildungs fühlten uns als aufgeklärte, moderne Familie“, erinnert sich Annemarie Renger. Als Kind sei sie ernstgenommen und von den Gesprächen der Erwachsenen nicht ferngehalten worden. „Erziehung und häusliche Umgebung machten uns ziemlich selbstbewusst und wohl auch ein bisschen stolz.“
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verliert der Vater seine Arbeit. Die Gestapo verhört ihn mehrere Male. Der Tochter wird aufgrund des sozialdemokratischen Hintergrunds der Familie ein Stipendium verwehrt, sie muss die weiterführende Schule verlassen. Stattdessen beginnt sie eine kaufmännische Lehre in einem Verlag. Hier trifft sie den Werbeleiter Emil Renger, den sie 1938 heiratet. Im selben Jahr kommt ihr einziger Sohn zur Welt. Im Laufe des Krieges verliert sie drei ihrer vier Brüder. Auch ihr Mann fällt 1944. Das Kriegsende erlebt die 24-Jährige mit ihrem Sohn in der Lüneburger Heide. „Froh war ich, dass der Krieg und damit der Nazispuk vorüber war; aber was jetzt geschehen sollte, lag völlig im Dunkeln.“ Doch sie ist fest entschlossen, sich „politisch zu engagieren und am Aufbau eines demokratischen Deutschlands mitzuwirken“.
Im Juni 1945 liest sie in der Zeitung erstmals von dem SPD-Politiker Kurt Schumacher. Spontan beschließt sie: „Diesen Mann muss ich kennenlernen!“ Sie schreibt ihm einen Brief und bewirbt sich als Mitarbeiterin für die neu im Entstehen begriffene Partei. In den kommenden sieben Jahren erlebt sie an der Seite des bald zum Parteivorsitzenden gewählten Schumacher den politischen Neuanfang der Bundesrepublik Deutschland. Der 49-jährige Jurist und ehemalige Reichstagsabgeordnete hatte im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren und war 1943 schwer krank nach mehr als neun Jahren Haft in verschiedenen Konzentrationslagern entlassen worden. Gezeichnet von Krieg und Diktatur wird er für Annemarie Renger zum wichtigsten politischen Lehrer, Mentor und Vertrauten. Nach seinem Tod 1952 bekommt Annemarie Renger das Angebot, selbst für den Bundestag zu kandidieren: „Ich hatte eine gesunde Portion Selbstbewusstsein, ich kannte ja schließlich das politische ‚Geschäft‘. Meine Lehrjahre bei Kurt Schumacher und die politischen Kenntnisse, die mir mein Vater vermittelt hatte, waren eine hervorragende Grundlage für die kommenden Aufgaben.“
Am 6. September 1953 wird Renger mit knapp 33 Jahren erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt und gehört dem Parlament die nächsten 37 Jahre ununterbrochen an. 1961 kommt sie in den SPD-Parteivorstand, von 1969 bis 1972 ist die resolute Politikerin als erste Frau Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion. Damit hat sie eine der Schlüsselpositionen im parlamentarischen Betrieb inne und koordiniert die Fraktion, die die erste SPD-geführte Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt stützt. 1963 bis 1977 setzt sie sich als Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses in der SPD für die Gleichberechtigung von Frauen ein. Mit dem Feminismus der aufkommenden 68er Bewegung jedoch fremdelt sie. Sie gehört zum konservativ-pragmatischen Flügel der SPD und wird Mitgründerin des Seeheimer Kreises. Zudem engagiert sie sich unter anderem als langjährige Vorsitzende der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe für Versöhnung und Ausgleich. Für das Amt der Bundestagspräsidentin schlägt sie sich selbst vor. „Glauben Sie, man hätte mich sonst genommen?“ In der Fraktion hat sie nicht nur Freunde: mit ihren dort als konservativ und unzeitgemäß wahrgenommenen Ansichten erregt sie Anstoß. Zwei Monate nach der Wahl muss sie zudem privat einen schweren Verlust hinnehmen: Nach nur wenigen Ehejahren verstirbt unerwartet ihr zweiter Mann, der Volkswirt und Diplomat Aleksandar Loncarevic.
In den kommenden vier Jahren treibt sie als Bundestagspräsidentin neue Projekte voran: Bürgergespräche führen sie auf Reisen quer durch die Republik, die bereits von ihrem Vorgänger Kai-Uwe von Hassel begonnene Parlamentsreform setzt sie fort. Wichtig ist ihr, den Gesetzgebungsprozess durch wissenschaftliche Expertise zu stärken. Sie knüpft Kontakte ins Ausland, insbesondere zum polnischen und israelischen Parlament. Bald zählt sie in Umfragen zu den bekanntesten und beliebtesten Politikern des Landes. Nach vier Jahren im Amt zieht sie das Fazit: „Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann.“ Bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Parlament 1990 bleibt sie Vizepräsidentin. Sie leitet die Sitzung am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls. Bereits seit 1985 ist sie Präsidentin des Arbeiter-Samariter-Bundes. Im Jahr 1991 wird ihr die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen in Anerkennung ihrer besonderen Verdienste um den christlich-jüdischen Dialog. Annemarie Renger stirbt mit 88 Jahren am 3. März 2008 in Oberwinter bei Bonn.
Quellen:
– Annemarie Renger: Ein politisches Leben. Stuttgart 1993.
– Annemarie Renger: An herausragender Stelle. Christa Schulze Rohr im Gespräch mit Annemarie Renger. Aus der Reihe: Zeugen des Jahrhunderts. ZDF, 1996, abrufbar auf YouTube unter https://www.youtube.com/watch?v=EczcfWq6rNA